A. Meier: Die „Jellinek-These“ vom religiösen Ursprung der Grundrechte

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Titel
Die „Jellinek-These“ vom religiösen Ursprung der Grundrechte.


Autor(en)
Meier, Annabelle
Reihe
Grundlagen der Rechtswissenschaft
Erschienen
Tübingen 2023: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
XVII, 396 S.
Preis
€ 114,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Linke, Institut für Systematische Theologie, Universität Leipzig

1911 starb der Jurist und liberale Intellektuelle Georg Jellinek in Heidelberg. Er hatte unter seinen Heidelberger Kollegen einige Freunde (darunter Max Weber und Ernst Troeltsch), mit denen er interdisziplinär zusammenarbeitete. Im Eranos-Kreis diskutierte er über die Einflüsse der Religion auf die Entstehung der modernen Welt, und aus dem Nachdenken an dieser Schnittstelle zwischen Modernetheorie, Religionsgeschichte und Jurisprudenz entstand seine nur wenige Seiten starke Schrift „Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ von 1895. Diese löste eine enorme Diskussion aus, da sie mit damals spektakulären Thesen den Blick auf die großen Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts veränderte. Jellinek meinte in seiner Schrift beweisen zu können, dass der Durchbruch der modernen Menschen- und Bürgerrechte nicht in Paris geschaffen wurde, sondern bereits in den von den Puritanern konstituierten Freiheitsrechten der nordamerikanischen Kolonien etabliert worden war und die französischen Revolutionäre von den USA gelernt hatten. Jellinek verschob mit dieser Abhängigkeit den Blick von Paris nach Nordamerika und löste damit eine Reihe von Entgegnungen und Korrekturen aus. Dieser Schrift und dem Diskurs wendet sich Annabelle Meier in ihrer bei Horst Dreier entstandenen Dissertation zu. Dies ist aus zwei Gründen kein einfacher Gegenstand. Erstens weil eine Untersuchung dieser Schrift einen interdisziplinären Ansatz verlangt und damit deutlich über die Binnendiskurse der Jurisprudenz hinaus gehen muss. Zweitens darf man sich nicht durch die Schichten der vielstimmigen und extrem widersprüchlichen Deutungen dieser Schrift irritieren lassen – darf sie aber auch nicht ignorieren. Beiden Ansprüchen wird das Buch – trotz einiger Schwächen – gerecht und stellt damit eine interdisziplinär bereichernde Arbeit dar, die nicht nur Jurist:innen, sondern auch Historiker:innen und Theolog:innen den Blick weiten kann.

Ausgangspunkt der Arbeit bildet die Zentralthese der Jellinek-Schrift, die sich auch im Titel der Arbeit niederschlägt: Haben die Grundrechte, die in der Amerikanischen Revolution kodifiziert wurden, einen religiösen Ursprung? Für die Verfasserin steckt darin eine doppelte Frage, die ihre Arbeit gliedert. Zum einen fragt sie, ob die Religionsfreiheit selbst einen religiösen Ursprung hat. Dies behauptet Jellinek, und davon ausgehend schließt er, zweitens, dass durch diese das Prinzip der Grundrechte entstanden ist und später ausgeweitet wurde. Damit stellt sich als zweite Frage, ob der Schluss von der Religionsfreiheit auf das Prinzip der Grundrechte und damit auf alle Grundrechte richtig ist.

Das methodische Vorgehen ist ein doppeltes. Die Verfasserin untersucht zum einen umfangreiches US-amerikanisches Quellenmaterial (neben Gesetzen auch Petitionen und publizistische Diskussionen), um die Debattenlage bei der Genese der Rechtscodices einschätzen zu können; zum anderen diskutiert sie ausführlich die Wirkungsgeschichte des Buches und prüft verschiedene Interpretationen.

Im ersten Teil widmet sie sich als Fallstudien den beiden Kolonien Rhode Island und Massachusetts, die als Extrembeispiele für den Umgang mit Religion in Nordamerika gelten. Die genaue Untersuchung bestätigt, dass Rhode Island ein Ort der Religionsfreiheit war, allerdings hatten die dezidiert religiösen Argumente des Gründers Roger Williams keine so umfassende Wirkung auf die Gründungsgeschichte der USA, wie oft behauptet wurde. Im Fall Massachusetts weicht die Untersuchung deutlicher vom allgemeinen Bild ab. Diese Kolonie kann nicht als die strikte Theokratie bewertet werden, die sie in ihrer Gründung war, da im Laufe der Zeit durch rechtliche Ausnahmeregelungen und dem Druck des Mutterlandes eine „de-facto Tolerierung religiöser Dissenters“ (S. 163) zustande gekommen ist.

Im ersten Teil kommt die Verfasserin durch ihre Untersuchung zu einem erstaunlich klaren Ergebnis: Die Religionsfreiheit hat (auch) einen religiösen Ursprung, da in den Debatten um diese beziehungsweise der Gewissensfreiheit theologische Argumente eine gewichtige Rolle spielte. Protestantische Gruppen etablierten die Gewissensfreiheit als wichtiges Argument in der juristischen Debatte. Träger dieser Debatte waren allerdings stärker die protestantischen Sekten als der klassische Calvinismus, was eine Bestätigung der Troeltschen Korrektur an Jellineks Fokus auf den Calvinismus darstellt.

Mit diesem Ergebnis grenzt sich die Verfasserin in der Wirkungsgeschichte von dem Narrativ ab, dass die Religionsfreiheit nur gegen die Religionen und durch eine säkulare Aufklärung erstritten sei. Insbesondere in kirchenkritischen Diskussionen findet sich die Behauptung, dass alle Menschenrechte nur gegen das Christentum erstritten seien. Oft wird bei diesem Narrativ das Naturrecht gegen die Theologie gestellt. Dagegen wird in der vorliegenden Arbeit deutlich, dass die theologischen Wortmeldungen naturrechtliche Argumente mitenthalten. Die Verfasserin zeigt, dass „naturrechtliche Begründung religiöser Freiheit nicht als Gegensatz zu einer theologischen verstanden wurde – vielmehr wurden beide Traditionslinien regelmäßig verbunden“ (S. 222).

Der zweite und deutlich kürzere Teil ist anders als der erste nicht so klar argumentiert. Die Frage, ob das Prinzip der Grundrechte in der Jellinekschen Form – als individuelle Abwehrrechte gegenüber dem Staat – von der Religionsfreiheit her entstanden ist, beantwortet Meier negativ. Die Argumente sind, dass die Religionsfreiheit – entgegen Jellineks Darstellung – keine herausgehobene Stellung in den Grundrechtskatalogen besitzt, andere Grundrechte ebenfalls eine eigene Genese haben und es kein „denknotwendiges Primat der Gewissensfreiheit“ (S. 343) für die anderen Freiheiten gibt. Doch insbesondere das letzte Argument überrascht, da die Autorin im ersten Teil darauf beharrt hat, dass eine lediglich historische Beteiligung ausreiche, um religiöse Wurzeln für die Religionsfreiheit festzustellen. Warum bedarf es bei den Grundrechten nun eine logische Begründung? Die Frage stellt sich umso mehr, als die Verfasserin konstatiert, dass es einen religiösen Ursprung der Grundrechte „in beschränkter wie zeitgebundener Hinsicht“ (S. 315) gibt. Mit dieser Erkenntnis wird allerdings nicht weiter gearbeitet. Stattdessen verliert sich die Arbeit in Betrachtungen, bei denen nicht deutlich wird, inwiefern sie die eigentliche Frage beantworten. Das betrifft besonders die Diskussion um die Stellung der französischen Erklärung von 1789. Hier macht die Arbeit den Eindruck, nicht fertig zu sein. Auch hätte es der Arbeit besser getan, wenn die weiterführende Debatte um die Religionsfreiheit, die sich nur noch sekundär auf Jellinek bezieht (das betrifft u. a. Martha Nussbaum, Niklas Luhmann, John Rawls, Carl Schmitt und Ernst-Wolfgang Böckenförde), in einem eigenständigen Kapitel als Ausblick oder Wirkungsgeschichte gesammelt worden wäre, anstatt sie immer wieder über die Arbeit zu verteilen, da der Bezug zur Untersuchungsfrage gelegentlich unklar ist.

Abgerundet ist die Arbeit mit einer Thesenreihe, die die Haupterkenntnisse gut zusammenführt. Ebenfalls am Ende der Arbeit findet sich ein Glossar der Religionsgemeinschaften, das für eine juristische Arbeit eine sinnvolle Erweiterung ist. Auffälligerweise fehlt hier aber der in der Arbeit benutzte Begriff des Evangelikalismus, der schillernd ist, weil der englische Begriff verschiedene Bedeutungsebenen hat und das englische Wort evangelical je nach Kontext unterschiedlich übersetzt werden muss.

Insgesamt ist die Arbeit bemerkenswert und vor allem im ersten Teil weiterführend. Die eingangs erwähnten Herausforderungen wurden gut gemeistert. Neben dem interdisziplinären Blick und der Navigation durch die Einbindung der Interpretationen beweist die Verfasserin ein historisches Geschick, indem sie die Religionsfreiheitsdebatten in den nordamerikanischen Kolonien innerhalb der „inhärenten Schranken des zeitgenössischen Religionsdiskurses“ (S. 62) betrachtet, anstatt gegenwärtige Maßstäbe anzulegen. Damit verbindet sich ihr klarer Blick auf die Quellen, der sich nicht von späteren Deutungen irritieren lässt. Die Arbeit belegt deutlich die „religiöse Dimension der amerikanischen Revolution“ (S. 245) und verteidigt eine wichtige historische Realität gegen ideologischen Abgesang.

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